5.000 Schritte
Ende 2020 zeigte mir Amelia Marriette die Facebook-Gruppe One Million Women Walking. Es war inspirierend, sich all die schönen Fotos anzusehen und mit Frauen auf der ganzen Welt in Kontakt zu treten, die die Vorteile des Gehens entdeckt hatten. Ich hatte Amelias Buch „Walking into Alchemy“ während des ersten Lockdowns zu Ende gelesen und wollte unbedingt selbst mehr gehen. Als ich dann sah, dass die Gruppe auch eine Walking Challenge hatte, setzte ich mir als Ziel, im Jahr 2021 durchschnittlich 5.000 Schritte pro Tag zu gehen. Dabei würde ich den Aktivitätstracker auf meinem Telefon als Schrittzähler verwenden. 5.000 Schritte mögen sich nicht nach viel anhören, aber es war eine Steigerung von 25 % gegenüber vorherigen Jahren, und da ich bei meinen Arbeitstagen viel sitze wusste ich, dass dieses Ziel zu erreichen einige Anstrengung erfordern würde.
Ich hatte einen guten Start im Januar und Februar, eingepackt in Winterkleidung, mit Handschuhen und Mütze und neuen Wanderschuhen mit gutem Profil für die verschneiten und eisigen Winterwanderungen. Ich liebte es, draußen an der kalten Luft und in einer Postkartenlandschaft zu sein. Unser kleines Tal im Süden Österreichs liegt geschützt zwischen Koralpe und Saualpe und wird von einem Fluss durchflossen, also stehen viele schöne Wege zur Auswahl. Ich packte oft ein Getränk und eine Jause ein und machte mich auf zu einem Mikroabenteuer, ohne wirklichen Plan. Ich habe es auch genossen, Wien und Graz zu Fuß zu erkunden, während ich meine dort lebenden Söhne besuchte. Inspiriert von Amelia habe ich versucht, meine Umgebung mit allen Sinnen wahrzunehmen. Im Laufe des Jahres wurde es wärmer und ich ging in meiner Freizeit immer wieder, aber ich nutzte das Gehen zunehmend auch als Fortbewegungsmittel. Ich ging zu Fuß zur Arbeit und zu jedem anderen Ziel innerhalb von 45 Minuten von zu Hause, und bei Besorgungen parkte ich das Auto am Stadtrand und ging von dort aus überall hin. Natürlich nahm ich statt des Fahrstuhls immer Treppen und wenn es notwendig war, mein Auto zu benutzen, habe ich oft weiter von meinem Ziel entfernt geparkt und den Rest des Weges zu Fuß zurückgelegt.
Im Frühling benutzte ich mein Fahrrad öfter, weshalb die 5.000 Schritte schwerer zu erreichen waren, aber ich machte jedes Wochenende einen langen Spaziergang, damit ich nicht zu weit von meinem Ziel abkam. Meine Lieblingswanderungen in der Umgebung sind der „Wein-Lehr-Pfad“ oder eine Bücherwanderung zu jeder der 5 offenen Bücherzellen unserer Stadt. Der nahegelegene Klopeiner See bietet auch einen Wanderweg rund um den See mit dem zusätzlichen Bonus, danach schwimmen gehen zu können, und sogar Rasenmähen und Hausarbeit wurden für mich attraktiver, als Möglichkeit meine Schrittanzahl aufrecht zu erhalten.
Der Sommer 2021 ist im Rückblick wie verschwommen, da die Crowdfunding-Kampagne zur Finanzierung der Übersetzung ins Deutsche und des Drucks von Amelias Buch „Alchemie des Gehens“ im Gange war. Euphorisch und dankbar nach Erreichen des Crowdfunding-Ziels begann die eigentliche Arbeit, als mein Sohn Markus und ich uns in enger Zusammenarbeit mit Amelia und ihrer Partnerin Katie an die Aufgabe machten, das Buch zu übersetzen. Es war für uns alle eine große Herausforderung, die jeden von uns an unsere Grenzen brachte, aber gleichzeitig war es beflügelnd, eine großartige Lernerfahrung. Es gab viele Höhen und manche Tiefen, ich habe mich und die anderen Beteiligten viel besser kennengelernt und festgestellt, dass Deutsch eine noch schwierigere Sprache ist, als ich ohnehin schon gedacht hatte. In dieser Zeit fand ich noch etwas Zeit zum Gehen, aber ich verlor mein Ziel ein wenig aus den Augen und dachte, ich würde es nicht mehr einholen können. Würde die Übersetzung eines Buches über die Kraft des Gehens mich wirklich davon abhalten, mein Ziel zu erreichen?
Der Herbst kam mit einer Farbenpracht, wir wurden fertig mit der Übersetzung und die Schönheit draußen motivierte mich wieder mehr zu gehen. Ich fing auch an, jede Woche zum Samstagsmarkt KuKuMa zu gehen, wo mein Mann ein kleines mobiles Café hat, um die meisten Produkte zu kaufen, die wir für die kommende Woche brauchen. Ich hatte von Amelia gelernt, es zu schätzen, dieselbe Route zu gehen und die Veränderungen des Wetters (diese Wolken!) und der Natur im Allgemeinen zu beobachten. Meine Wanderungen betrugen im Durchschnitt etwa 5 km und sind kein Vergleich zu Amelias herausfordernden 21 km langem Apfelweg, aber da wir nicht zu weit voneinander entfernt wohnen, sind das Wetter und die Landschaft ähnlich und ich konnte die vertraute Umgebung mit neuen Augen sehen. Natürlich ist es auch aufregend, an unbekannten Orten zu gehen und neue Dinge zu entdecken, aber es gibt definitiv Wunder, die im Vertrauten zu finden sind. Immer wieder meine Wanderschuhe anzuziehen, meinen Rucksack zu schnappen und raus zu gehen, einen Schritt nach dem anderen zu machen und meinen Rhythmus zu finden, machte 2021 nicht nur erträglich – sondern zu etwas ganz Besonderem.
Ich freue mich sagen zu können, dass ich mein Ziel von 5.000 Schritten pro Tag im Jahr 2021erreichte, mit insgesamt 1.849.455 Schritten, was etwa 1.410 km entspricht. Das bedeutet, dass ich die Strecke von Wolfsberg bis zum Absatz Italiens quasi zu Fuß zurückgelegt habe – im Laufe eines ganzen Jahres. Da habe ich mich natürlich gefragt, wie weit ich in 2022 „gehen“ könnte – vielleicht bis nach Stockholm? Das sind 2.000 km von hier, was bedeutete, dass ich dieses Jahr meine Schrittzahl auf 7.000 Schritte pro Tag erhöhen musste. Es ist jetzt Herbst und ich gehe wieder in der frischen, klaren Luft der kälteren Jahreszeiten und bin auf einem guten Weg, mein Ziel zu erreichen.
Amelias Geschichte vom Gehen in der Natur hat Menschen auf der ganzen Welt berührt und inspiriert. Wenn du sie treffen und mehr über ihr Buch erfahren möchtest – sie hält in den nächsten Monaten 2 Lesungen hier im Lavanttal ab. Autorin Martina Graf liest am 20. Oktober um 19 Uhr in der Musikschule Bad St. Leonhard Auszüge aus „Alchemie des Gehens“. Die zweite Buchlesung findet am Abend des 18. Novembers im Markussaal in Wolfsberg statt, wo Lili Preveden liest. Lili ist eine erfahrene mehrsprachige Moderatorin und Übersetzerin, die in Wien lebt, aber im Lavanttal aufgewachsen ist. Am 1. Dezember veranstalten Amelia, ihre Partnerin Katie Gayle und die bekannte Keramikkünstlerin Andrea Unegg um 19 Uhr eine Ausstellung im Badido, Bad St. Leonhard.


